Lieber Herr Berg, Sie sind drei Jahre und sechs Tage älter als die Aktion Mensch. Daher sind Sie uns in punkto Lebenserfahrung ein wenig voraus. Wie hat sich die Gesellschaft im Umgang mit dem Thema Behinderung in den vergangenen 50 Jahren Ihrer Meinung nach verändert?
Matthias Berg: Aus ganz persönlicher Sicht hat sich die Gesellschaft spürbar und sichtbar positiv entwickelt. Als Jugendlicher und junger Erwachsener war ich immer wieder unangenehmen Momenten ausgesetzt, wie herablassendes Kopfschütteln, Auslachen oder gar Hinterherrufen von „Krüppel“ oder Ähnliches. Aber das ließ nach. Zum einen, weil ich älter wurde – da traut man sich solche Widerlichkeiten nicht mehr so leicht – und zum anderen, weil es den angenehmen Gewöhnungseffekt gibt. Sobald meine Umgebung und ich uns aneinander gewöhnt hatten, wurde es entspannter und freundlicher.
Gesellschaftlich prägend ist aber auch der gesetzliche Rahmen, der das staatliche und gesellschaftliche Handeln beeinflusst. Das Grundgesetz wurde ergänzt und Benachteiligung aufgrund von Behinderung verboten (1994). Weitere Gesetze folgten und die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von 2006 erhebt erstmals die Rechte von Menschen mit Behinderung zu echten Menschenrechten und bringt uns die Inklusion. Letztere übrigens sensationell plastisch und selbsterklärend von der Aktion Mensch übersetzt: „Mit allen, von Anfang an“. Besser geht‘s nicht.
In Ihrem neuen Buch „Mach was draus!“ beschreiben Sie, wie Ihre Mutter im Jahr 1961 allein am Milchwagen steht, nachdem es in Ihrem kleinen Ort die Runde macht, dass Sie mit verkürzten Armen auf die Welt kamen. Vorher war der Lebensmittelhändler ein Treffpunkt, jetzt traut sich keine mehr, Ihrer Mutter Gesellschaft zu leisten. Der Grund: die Unsicherheit. Würde dieses „Aus-dem-Weg-gehen“ heute so auch noch passieren?
Das würde nicht nur passieren, sondern es passiert tagtäglich. Denn die Gewöhnung an Menschen, die mehr „anders“ sind als ein landläufig akzeptiertes Anderssein, wie relativ klein, relativ groß, relativ normale Haare, relativ kurz- oder weitsichtig, relativ mobil, relativ helle Haut und ähnliche Merkmale, ist ein Prozess, der etwas Zeit braucht. Sobald das Wörtchen „relativ“ zu einem „besonders“ wird, wird es ungewöhnlich. Überall, wo es Gewöhnung und Erfahrung noch nicht gibt, hat es sich aus meiner Sicht super bewährt, Brücken zu bauen und sich Zeit zu geben. Der Aktion Mensch gelingt es durch ihre geförderten Projekte und die Kampagnen, mitten im Leben mannigfaltige Erfahrungen im Umgang miteinander zu ermöglichen. Das ist für mich eine der Kernkompetenzen der Aktion Mensch.
Inklusion braucht Ihrer Meinung nach Zeit. Dies ist in unserem Alltag Mangelware. Was raten Sie den Menschen, wie eine inklusive Gesellschaft funktionieren kann?
Inklusion, also die Maxime „mit allen, von Anfang an“, geht uns alle an – egal ob mit ohne Behinderung. Die Bundesregierung hat schon vorgelegt und 2011 den Nationalen Aktionsplan Inklusion vorgelegt. Dieser muss jetzt von den Ländern aufgegriffen werden, die ihre eigenen Aktionspläne daran anknüpfen, gefolgt von immer konkreteren örtlichen Plänen. Liebe Politik in Bund Land, Regionen, Kreisen und Kommunen: Das ist euer Part, ein paar sind gut unterwegs, ein paar treten noch auf der Stelle und plustern die Bäckchen (zumeist die Kosten-Nöler) – auf geht‘s!
Und die Menschen? Die legen so lange schon mal los. Vereine aller Art, Initiativen, Verbände, Kindergärten, Schulen, Unis, Arbeitgeber, Städte und Gemeinden und viele mehr. Jede und jeder ist aufgefordert, an ihrer und seiner individuellen Stelle mit anzupacken, Verantwortung zu übernehmen und sich ein Projekt auszudenken. Auch hier zeigt die Aktion Mensch, wie es gehen kann. Dort gibt es zwischenzeitlich hunderte von Ideen, Vorschlägen, Rezepten und Beispielen, was alles vor Ort möglich ist.
Sie sind nicht nur Jurist, stellvertretender Landrat, Goldmedaillengewinner der Paralympics, Hornist und Co-Kommentator im ZDF. Sondern Sie haben aus den Erfahrungen als Motivationstrainer jetzt das Buch geschrieben, eine Art Anleitung zu mehr Kraft, Gelassenheit und mehr Leben. Können sich Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen daran halten?
Der Einstieg ins Buch führt über Ausschnitte aus meinem Leben und hat damit natürlich erstmal mit meiner Contergan-Behinderung zu tun. Der Anlass zu diesem Buch war aber eigentlich ein anderer. Nämlich die Frage, wie es gelingen kann, auch mit eher ungünstigen Startbedingungen gleich auf drei Gebieten außerordentlich erfolgreich unterwegs zu sein: in der Musik, im Leistungssport und in der Juristerei. Zunächst habe ich daraus Vorträge und Seminare entwickelt. Daraus wiederum entstand dann das Buch, das die wesentlichen Erlebnisse, Rückschlüsse und Entscheidungen für eine erfolgreiche Grundhaltung enthält. Denn die Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben ist unsere Haltung uns selbst gegenüber und gegenüber anderen. Das Buch ist im besten Sinne „inklusiv“ verfasst, weil es sich an alle richtet, die, egal ob mit oder ohne Behinderung, an ihrer Grundhaltung arbeiten möchten und eine Menge Spaß daran haben. Leben ist das, was wir daraus machen.
(Redaktion )