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Nachts an der Sonnenallee

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In einem braunen Becher steckt eine Servierte, auf der Untertasse liegt ein Stück Kuchen.

Jeden Freitagabend sorgen die Freiwilligen eines Berliner Nachtcafés dafür, dass Obdachlose eine warme Mahlzeit und einen Schlafplatz bekommen. Tatsächlich wird an dem gemeinsamen Abend noch einiges mehr geboten als volle Teller und Isomatten.

Jetzt hat der Winter Berlin mit voller Wucht erwischt. Temperaturen deutlich unter Null, dazu Schneegriesel. Es ist Freitagabend und vor der katholischen St. Richard Gemeinde in Berlin-Neukölln suchen gut drei Dutzend Frauen und Männer Schutz vor dem schneidenden Wind. Dann öffnen sich die Türen des wöchentlichen Nachtcafés für Obdachlose. Im Gemeindesaal begrüßen Elisabeth, Lissy, Hannah, Mirjana, Bernd und vier weitere Engagierte jeden Einzelnen mit Handschlag. Für viele der Obdachlosen ist es eine Erfahrung, die sie schon lange nicht mehr gemacht haben.

Im Nachtcafé sind ein Dutzend Tische aufgebaut, an denen sich die Gäste niederlassen. Zur Begrüßung bringen die Freiwilligen heißen Kakao und Kaffee an die Tische. Es dauert nicht lange, da tauen die Gäste auf, kommen ins Gespräch miteinander, lachen gemeinsam oder teilen ihre Sorgen. Elisabeth, Hannah und die anderen Engagierten sind mit Thermoskannen zwischen den Tischen unterwegs, schenken nach und erfahren die Neuigkeiten der letzten Woche. Man kennt sich. Viele der Gäste kommen in der kalten Jahreszeit jeden Freitag.

Lissy Eichert gehört zum Leitungsteam des Netzwerks Katholische Kirchen Nord-Neukölln, die das übergemeindliche Projekt betreiben, und begrüßt alle. Sie gibt wie jede Woche einen kurzen Denkanstoß, spricht ein gemeinsames Gebet und dann folgt ein kräftiger Applaus für die freiwilligen Helfer.

Es ist eine bunte Mischung von Leuten, die sich im Nachtcafé zusammengefunden hat. Ganz normale Menschen, die auf der Straße kaum jemandem auffallen würden. Darunter Deutsche, Russen, Balten... Die 67-jährige Elisabeth Cieplik, die das Ehrenamtlichen-Team leitet, erzählt: „Es kommen genauso Obdachlose zu uns wie auch Menschen, die noch eine Wohnung haben, aber von Armut betroffen sind." Otto ist einer von ihnen. Er ist inzwischen Rentner und könnte mit dem grauen Bürstenschnitt und Bismarck-Schnauzer auch als Biker durchgehen. Er war arbeitslos, kam mit der Miete in Rückstand und verlor schließlich seine Wohnung. Jetzt lebt er von 600 Euro Rente. „Inzwischen bin ich ganz froh, keine Wohnung mehr zu haben", meint er. „Bei den Mietpreisen hat man nur Ärger mit den Ämtern, wenn die was zuschießen sollen." Er hat viele Bekannte, bei denen er im Winter unterkommen kann, sonst setzt er sich in die S-Bahn und fährt bis zur Endhaltestelle und zurück. 

Als Mirjana Otto fragt, ob er noch mehr Kakao möchte, bestellt der mit einem breiten Grinsen ein Pils bei ihr. Es ist ein Running Gag, der jedes Mal wieder funktioniert. Die Studentin hat im Internet nach Engagement-Möglichkeiten recherchiert und ist dort auf das Nachtcafé gestoßen. Zusammen mit ihrem Freund Bernd ist sie jetzt mit dabei. Nicht immer, aber immer, wenn es passt. Wenn gerade nichts zu tun ist, setzen sich die Freiwilligen für einen Moment an einen der Tische und kommen ins Gespräch mit den Gästen. Dort wo es sprachliche Barrieren gibt, versucht man es mit Händen und Füßen.

Dann ist der Leberkäse mit Kartoffeln und Kohl fertig. Die Freiwilligen haben jetzt alle Hände voll zu tun, die gefüllten Teller aus der Küche an die Tische zu bringen. Nachschlag gibt es, bis jeder satt ist. Auch das gehört zu dem Besonderen an diesem Abend – es gibt keine Konkurrenz und Rivalität unter den Gästen. Jeder weiß, dass er satt wird und wenn er will, einen Schlafplatz hat. Von dem Stress und Streitereien auf der Straße ist hier nichts zu spüren.

Seit 15 Jahren gibt es das Nachtcafé inzwischen. Elisabeth Cieplik plant jeden Abend ganz genau. Sie verwaltet die Tabelle, in der alle Schichten verzeichnet sind. Jeder der rund 50 Engagierten pro Saison trägt sich ein, wann er Zeit und Lust hat. Daneben verwaltet die Rentnerin das Budget und schlägt schon mal einen saftigen Rabatt beim Kauf neuer Schlafsäcke heraus.

Gegen halb zehn gehen die Gäste, die anderweitig einen Schlafplatz organisiert haben. Es bleiben 16 Männer und Frauen, die hinter einem Vorhang Isomatten und Bettzeug finden. Die Freiwilligen bilden einen Kreis und jeder erzählt kurz, welche besondere Begegnung er oder sie an dem Abend hatte. Dann übernimmt auch schon die Nachtschicht. Thilo, der 70-Jährige mit dem Pferdeschwanz ist nun am Start, zusammen mit Lukas, dem Enkel von Elisabeth Cieplik. Die beiden Männer ziehen sich Gummihandschuhe über und machen sich an den Abwasch. Dann bereiten sie das Frühstück vor und legen sich noch ein paar Stunden hin, bis ab sechs Uhr das Frühstück beginnt.

Was dieser Abend für die Gäste bedeutet? Otto sagt es so: „Es ist nicht nur das warme Essen. Das Reden mit den Anderen ist genauso wichtig. Das ist wie Ausgehen."

 

Eine Kultur des Mitgestaltens, in der sich jede Bürgerin und jeder Bürger als Akteur der Gemeinschaft erlebt, ist ein Grundpfeiler für eine inklusive Gesellschaft. Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch unabhängig von individuellen Fähigkeiten die Möglichkeit hat, gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen teilzuhaben und sie mit zu gestalten. Über 16.000 Angebote für freiwilliges Engagement für Menschen mit und ohne Behinderung bietet die Freiwilligendatenbank der Aktion Mensch.

Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligendatenbank.

(Henrik Flor)


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